Slowakei
Prag liegt hinter uns, Brünn ist die letzte größere Stadt vor der Grenze zur Slowakei. Noch einmal erfahren wir die freundliche Hilfsbereitschaft der Menschen hier in Tschechien. Ein Tankwart nimmt sich die Zeit, uns den Weg aus der Stadt ausführlich zu erklären; in fast perfektem Deutsch. Dann rollen wir der tschechisch-slowakischen Grenze entgegen. Im Licht der langsam untergehenden Sonne schlängelt sich die Straße gemächlich zwischen Äckern, vertrockneten Sonnenblumen- und Maisfeldern, Hecken und kleinen Wäldern dahin, hinein in verschlafene böhmische Dörfer. Irgendwie scheint das Leben hier stecken geblieben - zwischen Postkommunismus und Marktwirtschaft. Lange schon haben die immer und überall gleichen bunten Botschaften des globalen Kapitalismus Einzug gehalten, Coca-Cola, Lidl, Mediamarkt, H&M. Ihren Charme haben sich diese Orte dennoch bewahrt, dank wunderbarer Anachronismen: über Lautsprecher, die überall im Dorf aufgehängt sind, werden offenbar die neuesten Gemeindenachrichten verbreitet; ein Relikt aus alten Tagen, nur die Botschaften haben sich wohl verändert. Es ist schon dunkel als wir den Weinort Hustopece erreichen und in einem kleinen Landhotel für einen fairen Preis Unterkunft finden. Andern Tags sind es noch 25 Kilometer bis zur Grenze, die vor wenigen Jahren noch keine war. Noch immer sehen die Grenzstationen wie Provisorien aus. Die Morava trennt nun friedlich die beiden Brüdervölker, die nicht mehr zusammengehören wollten. Ein paar Kilometer weiter schüttelt uns erstmals Kopfsteinpflaster durch. Eigentlich hatten wir mit solchen Materialtests viel früher gerechnet. In der nächsten Ortschaft lernen wir, dass die Slowaken mindestens genauso unaufdringlich freundlich, offen und zurückhaltend höflich sind wie ihre einstigen Staatsgenossen. Ein alter Mann, vielleicht um die 70, versucht mit Gesten und ein paar Brocken Deutsch zu erzählen, dass auch er früher die Slowakei mit dem Fahrrad bereist hat. Stolz zeigt er uns, wo er überall gewesen ist. Nein, nur so viel Gepäck hatte er nie dabei.
Ja, das Gepäck, obwohl wir uns auf das nötigste beschränkt haben, hängen bestimmt gut 20 Kilo an unseren Rädern. Gewogen haben wir das nicht, so genau wissen wollen wir das auch gar nicht. Es reicht wenn wir es spüren, in den Oberschenkeln, je länger der Tag, jedes Kilo, mit jedem Tritt mehr. In Bratislava angekommen, müssen wir noch einmal 10 Kilometer unter die Räder nehmen. Unser erster Projektbesuch steht auf dem Programm. Alena und Michaela von ‚Children’s Fund of Slovak Republic’ lotsen uns über vierspurige Ausfallstraßen in den Vorort Vrakuna; eine lieblose Ansammlung hässlicher Betonburgen. In der Peripherie deutscher Städte gibt es ähnliche Siedlungen – soziale Brennpunkte sind sie hier wie da. Im Schatten eines sternförmigen Gebäudes, dass jeder in Bratislava nur das Pentagon nennt – und tatsächlich sieht es diesem gar nicht so unähnlich – liegt der Mixclub. Seit drei Jahren versuchen hier Michaela und ihr Team, den Kinder und Jugendlichen, vornehmlich Roma, Alternativen anzubieten und Perspektiven aufzuzeigen. Alternativen zu einem Leben auf der Straße, zu Gewalt, Drogenmissbrauch, Kriminalität und Prostitution, Perspektiven, dieses Leben hinter sich zu lassen. „Es hat Jahre gedauert, bis diese Kinder Vertrauen zu uns aufgebaut haben“, erzählt Michaela. „Nun sehen wir langsam, dass unsere Arbeit doch Erfolg hat. Aber man braucht viel Geduld.“
Zurück im Zentrum erleben wir den krassen Gegensatz zwischen Peripherie und Stadtmitte, der alle Städte im ehemaligen kommunistischen Osten kennzeichnet, um
so eindrücklicher. Das Leben der Kinder von Vrakuna ist weiter weg als die 10 Kilometer, die sie von der für den Tourismus herausgeputzten, aufgeräumten und fast schon mondän wirkenden Altstadt trennt. Gleich hinter deren Grenzen beginnen die real existierenden Bauwüsten des einstmals gleichnamigen Sozialismus. Funktionalistische Betonarchitektur, die Individualität und alles Leben in graue Einförmigkeit zwingt, zwingen sollte. Menschen wie Igor hätten es damals wohl schwer gehabt. „He looks like a cunt, but he is a nice guy”, so stellt Igor seinen besten Freund vor, als wir ihn in einer verwinkelten, kleinen Kneipe kennenlernen. Igor ist vielleicht Mitte zwanzig und obwohl er schon reichlich betrunken ist und bisweilen nicht das rechte englische Wort findet, um das auszudrücken, was er sagen möchte, merkt man, dass er sich seine eigenen Gedanken macht über das, was um ihn herum geschieht. Er kritisiert die ehemaligen Kommunisten und die aktuellen Politiker, schwärmt von Kafka und Tom Waits und zeigt uns schließlich einen Kellerklub in einer kleinen Seitengasse, wo junge Bratislavis zu Jungle, Dub und Reggae alles geben.
Der nächste Morgen: Schwere Beine, schwerer Kopf. Aber wir müssen weiter, die Zeit drängt. Die vermeintlich einfache Strecke entlang der Donau zur ungarischen Grenze entpuppt sich als Nervenprobe. Die Straße ein endlos langer Strich, der irgendwo am Horizont im Nichts verschwindet, der Wind kommt auch von dort, der Asphalt ist rau und bremst zusätzlich. Man hat das Gefühl auf der Stelle zu stehen, Minuten werden zu Stunden. Man hat das Gefühl schon ewig lange im Sattel zu sitzen, der Blick auf die Uhr verrät, es sind gerade mal wieder nur 20 Minuten vergangen. Erst als die Straße kurz vor der Grenze noch einmal ins Landesinnere abbiegt, wird es besser. Die Begegnung mit einem echten argentinischen Gaucho bringt zusätzlich Abwechslung. Eine argentinische Fahne wie ein Poncho über die Schultern gehängt, auf dem Kopf einen großen Schlapphut, darunter eine riesige Nase in einem sonnengegerbten Gesicht, führt er drei Pferde an einer Leine hinter sich her. Seit sechs Jahren ist er schon unterwegs, sein Ziel die Mongolei. Im Vergleich dazu ist unsere Reise ein Wochenendtrip. |